Gastkommentar: Immer das Gleiche - Krise ohne Ende in der Verkehrspolitik?
Die Verkehrspolitik – und hier insbesondere die für den Öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) – befindet sich verstärkt ausgehend seit den Entscheidungen der Regierung von Ministerpräsident Koch in Hessen Mitte der neunziger Jahre in einer zunehmend schweren Krise (siehe dazu auch „Lohnkutscher in Hessen“, FAZ, 18.03.2006). Milliarden Euro an Subventionen (die exakte Summe kennt niemand), die jährlich in das System „Öffentlicher Verkehr“ gepumpt werden, versickern in ständig wachsenden staatlichen Bürokratien wie z.B. Verkehrsverbünden und in den dem Wettbewerb entzogenen öffentlichen Verkehrsbetrieben. Die insbesondere in der Regierung Koch begründete erhebliche Steigerung der „Fertigungstiefe des Staates im Verkehr“ (A. Knie) ist in den nachfolgenden Übertragungen auf ganz Deutschland weiterhin der merkliche Verhinderer einer notwendigen Verkehrswende.
Das Einstein zugeschriebene, historisch nicht belegte, aber dennoch sehr bekannte Zitat „Wer immer das Gleiche tut und andere Ergebnisse erwartet, ist verrückt“ wird oft verwendet, um auf mangelnde Lernfähigkeit oder irrationales Verhalten hinzuweisen. Dieses Zitat beschreibt treffend die heutige Verkehrs- und speziell ÖPNV-Politik.
Für die längst überfällige Restrukturierung des ÖPNV gilt auch die grundlegende Erkenntnis: „Ein offener und regelbasierter Wettbewerb ist das konstitutive Element einer erfolgreichen und sozialen Marktwirtschaft. Er schafft Grundlage für Innovation und Wachstum, indem er Machtkonzentration und Erstarrung reduziert sowie Verbraucher und Wettbewerber vor unfairen Praktiken schützt. Er bringt Leistungen hervor, die Wohlstand sichern und deren Besteuerung sozialen Ausgleich ermöglicht. Der Jurist Franz Böhm, einer der geistigen Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft, bezeichnete den Wettbewerb daher als „das genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte“ (aus: Wettbewerb als geniales Entmachtungsinstrument – In Gedenken an Prof. Dr. Heike Schweitzer, LL.M. (Yale) Mittwoch, 11. Juni 2025 – Deutscher Bundestag, Berlin; Beginn des Einladungstextes).
Beim ÖPNV in Deutschland handelt es sich in weiten Teilen jedoch um eine „staatliche Veranstaltung“. Mehr als die Hälfte der Gesamtkosten werden – mit steigender Tendenz – aus öffentlichen Haushalten finanziert. Ein erheblicher Teil der Leistungen wird von Betrieben in öffentlichem Eigentum erbracht (weite Teile des SPNV, kommunale Verkehrsbetriebe in Städten und zahlreichen Landkreisen sowie öffentliche Unternehmen im Auftrag von Gebietskörperschaften). Wenn private Anbieter die Verkehre durchführen, so geschieht dies zumeist auf der Basis von Ausschreibungen, bei denen eine Behörde teilweise bis ins Detail vorgibt wie die Leistung zu erbringen ist. Bei den privaten Betrieben handelt es sich dann letztlich oftmals um eine Art „Lohnkutscher“, deren Erlöse von der Nachfrage nach ihren Leistungen abgekoppelt sind und die lediglich innerbetrieblich nach Möglichkeiten der Kostenreduktion suchen können, sofern dies nicht den öffentlich formulierten Vorgaben widerspricht.
Der Trend der letzten Jahre, befördert durch die Einführung des Deutschlandtickets sowie weite Teile der Fachdiskussion, lassen eine weitere Stärkung des staatlichen Einflusses auf den ÖPNV erwarten. Ein eigenwirtschaftliches Angebot von ÖPNV-Leistungen ist inzwischen in Deutschland sehr selten geworden. Bei der im Gegenzug zu beobachtenden Kommunalisierung wird jedoch ausgeblendet, dass öffentliche Betriebe strukturell weniger effizient produzieren als private Anbieter und politische Entscheidungsträger weniger gut über die Präferenzen der Nachfrager informiert sind als Unternehmen, die in direktem Kontakt zu ihren Kunden stehen. Es gilt für den OPNV eine alternative Ordnung zu finden, die die Erfüllung sozial- und umweltpolitischer Ziele mit einer stärkeren Nutzung der dynamischen Kräfte des unternehmerischen Wettbewerbs verbindet.
Unstrittig ist, dass eine spezifische staatliche Rahmensetzung für den ÖPNV erforderlich ist, da (1) der Wettbewerb zwischen mehreren aktiven Anbietern marktstrukturell bedingt in aller Regel nicht funktioniert, (2) aus sozialen Gründen Mobilität auch für einkommensschwache und mobilitätseingeschränkte Personen sichergestellt werden soll und (3) die unzureichende Internalisierung der externen Kosten des motorisierten Individualverkehrs Verzerrungen im intermodalen Wettbewerb mit sich bringt. Der folgende Reformvorschlag basiert daher auf dem Grundprinzip der Subjektförderung, verbunden mit einem wettbewerblichen Vergabeverfahren für die jeweilige Bedienung des Marktes (Genehmigungswettbewerb).
Der Staat sollte jedem Bürger bzw. Einwohner ein Mobilitätsguthaben für den ÖPNV zur Verfügung stellen. Dieses Mobilitätsguthaben ließe sich nach vielfältigen, politisch definierten Kriterien staffeln, beispielsweise nach dem sozialen Status (erwerbstätig, arbeitslos, in Ausbildung) oder auch dem Wohnort (Stadt vs. ländlicher Raum). Das Mobilitätsbudget könnte dann deutschlandweit für ÖPNV-Leistungen genutzt werden. Dies würde einerseits kostenorientierte Tarife ermöglichen, andererseits die Einnahmen gemäß der tatsächlichen Inanspruchnahme auf die Anbieter verteilen. Wenn beispielsweise im ländlichen Raum besonders hohe Mobilitätsguthaben pro Kopf gewährt werden, könnten dort auch für die bedarfsorientierten Angebote kostendeckende Tarife festgelegt und diese Verkehre folglich im Genehmigungswettbewerb vergeben werden.
Zudem wäre es möglich und sinnvoll, öffentliche Anbieter zu privatisieren. Die Umsetzung des Mobilitätsguthabens setzt eine umfassende Digitalisierung voraus, wie sie in zahlreichen anderen Staaten bereits Standard ist. Im Ergebnis bestünde ein maximaler Anreiz für die Anbieter, ein kundenorientiertes Angebot zu entwickeln und dieses effizient zu produzieren, um so den eigenen Gewinn zu steigern. Als ergänzende staatliche Aufgaben verblieben neben der Organisation des Genehmigungswettbewerbs, die Regulierung der Infrastrukturbetreiber im schienengebundenen Verkehr und ggf. die Förderung von Angebotsmerkmalen, die über den ohnehin gesetzlich vorgegebenen Rahmen hinausgehen, etwa beim Einsatz emissionsfreier Fahrzeuge. Es soll nicht verschwiegen werden, dass eine derart fundamentale Neugestaltung des Ordnungs- und Finanzierungsrahmens für den ÖPNV erhebliche politische Anstrengungen erfordert, auch da das derzeitige System gerade im Bereich der öffentlichen Anbieter zahlreiche Profiteure kennt. Vor dem Hintergrund der für eine Verkehrsverlagerung erforderlichen Attraktivitätssteigerung des ÖPNV sollte diese Aufgabe jedoch in Angriff genommen werden, da ansonsten die Gefahr besteht, dass zusätzliche Mittel weiterhin zu einem erheblichen Teil in einem intransparenten und letztlich nicht kundenorientierten System versickern.
Zum Autor:
Rüdiger Sterzenbach (geboren 1946) studierte Volkswirtschaftslehre in Marburg. Er war von 1977 bis 2012 Professor für Volkswirtschaftslehre und zudem Volks- und Betriebswirtschaftslehre des Personenverkehres an der Hochschule Heilbronn sowie parallel bis 2006 Mitgesellschafter der SZ-Verkehrsbetriebe. Im Ehrenamt war Sterzenbach zudem Vorsitzender der Ständigen Konferenz der Landessportbünde und Präsident des Landessportbundes in Rheinland-Pfalz sowie wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU Rheinland-Pfalz.
Seine jahrzehntelange Erfahrung und Expertise bringt er bis heute in politische und ökonomische Veröffentlichungen zur gesamten Mobilität ein – Sterzenbach wird gelegentlich auch als „ÖPNV-Papst“ und „Luftverkehrs-Papst“ zitiert. Er hat gemeinsam mit Professor Frank Fichert jüngst das Buch „Verkehrspolitik und Verkehrswende“ veröffentlicht. Weitere Beiträge von Rüdiger Sterzenbach sind auf seiner Website ruediger-sterzenbach.de zu finden.
Kommentare und Meinungsbeiträge werden als Debattenbeitrag in der Diskussion um die Neuordnung der Strukturen im deutschen Verkehrswesen veröffentlicht. Namensbeiträge geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.