„Wollen uns deutlich stärker vom Papierfahrschein lösen”

Alexa Prätor. Bild: Christian Hueller
NaNa: Frau Prätor, zur Einordnung: Für welche Zwecke ist die MOOVME-App im MDV-Gebiet insbesondere konzipiert? In welchem Verhältnis steht sie zu Apps aus der Region wie etwa LeipzigMove der Leipziger Verkehrsbetriebe?
Alexa Prätor: Die App ist in erster Linie eine Kooperation der Regionalbus- und der Eisenbahn-Unternehmen im MDV-Gebiet. Die App-Funktionen stellen sie vor allem für die langen Strecken bereit, liefern Service-Informationen und haben auch innerhalb der Landkreise On-Demand-Verkehre mit eingebunden. In Städten wie Leipzig und Halle gibt es eigene multimodale Apps. Klassischer ÖPNV ist dort natürlich auch umfasst aber zudem Carsharing, Bikesharing, Taxiruf oder andere Verkehrsträger, die es in der Fläche teils gar nicht gibt. Mit der MOOVME-App wollen wir erreichen, dass jede Nutzergruppe im Verbundraum sich wiederfindet.
NaNa: Wer ist Technologie-Partner bei der in die MOOVME-App integrierten CiaCo-Lösung?
Prätor: Die gesamte App wird von HaCon bereitgestellt – und nun auch die CiaCo-Funktionalität. Die HaCon-Einheit EOS.uptrade betreibt das Buchungssystem im Hintergrund, also alles, was Kontoführung, Kundenverwaltung und die Anbindung des Finanzdienstleisters für die Abbuchung betrifft.
NaNa: Wie funktioniert das CiCo genau, insbesondere beim assistierten Check-out?
Prätor: Die Funktion heißt Check-in und assisted Check-out. Die App nutzt die Bewegungssensoren des Smartphones und stellt fest, wenn sich jemand, der sich vor Fahrtantritt eingecheckt hat, nicht mehr im Fahrzeug befindet, und schickt dann eine Erinnerung, Achtung Fahrgast: Du bist laut System noch im ÖPNV unterwegs. Wenn der Fahrgast nicht reagiert, wird er nach etwa 20 Minuten auch hart ausgecheckt. Zugleich muss durch diese Zeitspanne der Kunde etwa während einer Umsteigezeit nichts beachten.
NaNa: Das System erkennt also, wenn jemand zu Fuß geht, statt mit der Bahn zu fahren?
Prätor: Genau, wenn der Kunde mit dem Fahrrad weiterfährt oder auch mit dem Auto ab einem P&R, dann haben diese Verkehrsmittel andere Beschleunigungsprofile als ein Bus oder die S-Bahn.
NaNa: Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen mit dem CiaCo-System? Wie wird es genutzt und hat es zu Umsatzwachstum bei Gelegenheitstarifen geführt?
Prätor: Die Kunden probieren die Funktion erst einmal aus. Erfahrungen aus Halle zeigen, dass mit dem Vertrauen in das System auch die Anzahl der Fahrten mit der Zeit steigt. Es ist nicht die Erwartung, Fahrgäste mit 50 Fahrten im Monat zu erreichen. Die haben das Deutschlandticket. Wir bewegen uns bewusst in einer Nutzergruppe, die auf einzelne bis mehrere Fahrten im Monat kommt. Für die soll es einfacher werden. Auch was die Erlösentwicklung im Bar-Tarif angeht, lässt sich noch keine gradlinige Entwicklung ablesen. Der große Verzerrer, die Abwanderung in das Deutschlandticket, hat den Umsatz im Bartarif ja auch deutlich verändert. Das kann sich bei einer Preiserhöhung des Deutschlandtickets auch immer wieder ändern.
In Halle ab diesem Jahr bei CiCo-Nutzung nur noch Luftlinien-Tarif
NaNa: Am eigentlichen Tarifmodell ändert sich nichts, etwa hin zu einem Luftlinientarif?
Prätor: Wir haben bewusst erst einmal auf das bisherige Tarifsystem gesetzt. Es läuft aber parallel dazu ein E-Tarif-Pilot in Halle. Dort haben wir einen Luftlinientarif eingeführt. Bisher konnte der Fahrgast entscheiden, welchen Modus er wählt. In diesem Jahr werden wir das nun umstellen, sodass dann für Fahrten innerhalb von Halle immer der Luftlinien-Tarif gilt, wenn per CiCo gefahren wird. Wir haben dort bislang gute Erfahrungen gemacht. Viele Testnutzer fühlen sich damit wohl.
NaNa: Was sind die Vorteile für die Fahrgäste bei der Luftlinie? Kann die entfernungsscharfe Abrechnung nicht auch Mindereinnahmen bringen?
Prätor: Der Preis ist beim Luftlinientarif vollständig von der Entfernung abhängig. Wir wollen damit vor allem Kunden im Kurzstreckenbereich gewinnen, die bisher vielleicht doch zu Fuß gegangen sind. Wir bieten jetzt an, auch nur ein oder zwei Haltestellen zu fahren, ohne den kompletten Fahrpreis bezahlen zu müssen. Unsere Erfahrung ist, dass mit dieser CiCo-Lösung die Kunden durchaus öfter fahren als vorher. Und die Hallenser Erfahrungen wollen wir später mit Blick auf das gesamte Verbundgebiet bewerten.
NaNa: Nutzen Sie die CiaCo-Daten der MOOVME-App auch etwa im Bereich der Einnahmeaufteilung oder bei der Verkehrsplanung?
Prätor: Noch ist die Nutzung nicht so flächendeckend, dass wir mit den Daten intensiv arbeiten könnten. Aber das ist der Plan für die Zukunft. Für die Einnahmeaufteilung mittels CiaCo-Apps haben wir im Moment noch zu viele Zeitkarten im System, viele Kunden nutzen dafür Chipkarten.
Aber wir wollen die App-Daten bereits jetzt für die Verkehrsplanung nutzen. Umsteigewege und -zeiten können analysiert, und es kann nachgesteuert werden. Gleiches gilt für Erkenntnisse zu hohen Belegungen von Fahrzeugen. Das alles wollen wir ausbauen.
NaNa: Es gilt bei der CiCo-Nutzung ein Price-Capping?
Prätor: Richtig, die App meldet dem Tarifserver, wo der Kunde ein- und ausgestiegen ist, sowie die gesamte Fahrtkette. Auf dieser Basis wird der Preis für die Strecke ermittelt. Dann schauen wir, wie viele Fahrten der Fahrgast innerhalb von 24 Stunden unternommen hat. Und bei mehreren Fahrten wird am Ende als Bestpreis der Tagespreis, also die Tageskarte, abgerechnet.
Das heißt auch, dass der Kunde beim Check-in genau genommen nur eine Einstiegsberechtigung erhält. Man weiß ja noch nicht, ob es eine Einzelfahrkarte bleibt oder eine Tageskarte wird. Diese Einstiegsberechtigung ist ähnlich wie ein Ticket nach dem E-Ticket-Standard des VDV spezifiziert. Der Kunde bekommt am Ende eine Abrechnung. Und er kann in der App sämtliche Fahrten nachvollziehen, auch wie die Fahrten zusammengefasst wurden.
NaNa: Besteht die Gefahr der Manipulation, indem etwa eine Person noch schnell einzuchecken versucht, wenn Kontrolleure zusteigen?
Prätor: Ich habe es mehrfach selbst ausprobiert. Während der Fahrt kann nicht eingecheckt werden, da das System die Bewegungssensoren des Smartphones erfasst. Es wird dann auch keine Haltestelle gefunden. Die Einstiegsberechtigungen haben außerdem wie die Digitaltickets einen Counter. Auch das Auschecken vor Ende der Fahrt können wir identifizieren, da das System feststellt, dass der Fahrgast noch in Bewegung ist.
NaNa: Ist es denkbar, auch eine Erinnerung fürs Einchecken auf das Handy zu schicken? Je bequemer das Ticketing wird, desto schneller wird vielleicht auch mal vergessen, einzuchecken.
Prätor: Nein, weil wir keine Beacons (in jedem Fahrzeug fest installierte Signalpunkte) im Bus oder in der Bahn haben, mit denen das Handy Kontakt aufnehmen könnte, um das Warnsignal zu generieren. Wenn es darum geht, in Zukunft womöglich auch Be-in, Be-out-Apps – BiBo – anzubieten, werden wir in dieser Richtung weiterdenken müssen. Bislang haben wir uns dagegen entschieden, auch weil der Fahrgast bewusst einchecken soll. Auf diese Weise erhalten wir eine ‚juristische Handlung‘ des Fahrgasts, mit der er die Rechte und Pflichten, die mit der Fahrt zusammenhängen, akzeptiert. Andernfalls läge die Nachweispflicht bei uns, dass der Fahrgast die Beförderung in Anspruch genommen hat.
NaNa: Im MDV-Gebiet hatten sie jüngst für ein Pilotprojekt zur Deutschlandticket-EAV bereits Beacons in vielen Zügen und Fahrzeugen verbaut. Könnte das bereits eine Grundlage für ein künftiges BiBo-System bilden?
Prätor: Möglicherweise, aber an dem Punkt sind wir noch nicht. Im Moment testen wir, wie die Kommunikation zwischen Beacons und Handys oder auch anderen Empfangsgeräten funktioniert. Zunächst wollen wir damit Verkehrsströme erfassen, aber auch prüfen, ob wir die Daten für die Einnahmeaufteilung nutzen können.
Wenn wir außerdem ins Ausland blicken, nutzen viele Regionen auch Kreditkarten im ÖPNV. Da helfen Beacons nicht weiter, da sie nicht selbstständig kommunizieren können. Das Handy, das für die Kommunikation infrage kommt, nutzen wir aber auch heute schon. Da brauchen wir keine Beacons im Fahrzeug.
„Wollen den geordneten Rückbau von Ticket-Automaten angehen“
NaNa: KI, Perplexity, ChatGPT, ist das etwas, das zumindest aus Kundensicht starke Veränderungen auch bei der Nutzung des ÖPNV mit sich bringen wird?
Prätor: Technologisch ist das sehr interessant. Es gilt allerdings, dass auch künftig vertriebsseitig das Ticket erzeugt und abgerechnet werden muss. Im Moment liegt die Vertriebshoheit in Deutschland bei den Verkehrsunternehmen, und das kann kein ChatGPT übernehmen.
Spannend ist natürlich, woran der Kunde im Frontend nun bereits vielfach gewöhnt ist. Womöglich ‚promptet‘ man schon in naher Zukunft viele Vorgänge des Alltags und benutzt einfach Sprache. Hier wäre sicherlich wichtig, sich als Branche ein gemeinsames Bild zu verschaffen und sich strategisch aufzustellen.
NaNa: Was sind näher liegende Punkte Ihrer Digitalstrategie?
Prätor: Wir wollen uns im mitteldeutschen Verbundraum deutlich stärker vom Papierfahrschein lösen. Das ist politisch nicht immer einfach. Niemand soll aus der Nutzung gedrängt werden. Aber mit digitalen Tickets können wir viel besser das Mobilitätsverhalten unserer Fahrgäste zum Beispiel für die Verkehrsplanung berücksichtigen. Außerdem planen wir, uns stufenweise von stationären Automaten zu trennen. Nicht über Nacht. Aber wir sind mit unseren Gesellschaftern im Gespräch, den geordneten Rückbau in Teilen anzugehen. Unser Ziel ist, dass wir in wenigen Jahren rund 90 Prozent des Umsatzes im Bartarifsegment digital abwickeln. Das heißt über Chipkarten und Apps. Wir sind jetzt bei circa 25 Prozent. (dhe)